Predigtreihe „Die Zukunft der Kirche“
Die sterbende Volkskirche – Predigt 1 – Jes 6,13b
26. Mai 2024- P. Dr. Michael Giebel
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus und dem Heiligen Geist. Amen
Liebe Gemeinde,
a) vor zwei Jahren war ich auf einer Fortbildung im Karwendelgebirge. Wir waren wandern in dieser herrlichen Bergwelt. Da gab es viel zu erleben: hohe Gipfel vor einem weiten Himmel, grüne Almwiesen, schlanke Tannen.
Bei einer Pause entdeckte ich einen abgestorbenen Baum. Man konnte sehen, dass er einmal eine mächtige Tanne gewesen sein musste. Jetzt aber stand nur noch der nackte, kahle Stamm da. Immer noch stattlich, aber ohne Grün, ohne Zweige und Äste und ohne Rinde. Doch das war noch nicht alles. Direkt neben dem abgestorbenen Baum wuchs aus seinem Wurzelwerk eine neue Tanne hervor. Und wenn man um den Baum herumging, dann sah man den toten Baum kaum noch. Stattdessen stand da eine aufstrebende, junge, gesunde Tanne.
Ich habe diese Entdeckung gleich fotografiert, von beiden Seiten. Denn bei diesem Naturphänomen musste ich an unsere Kirche denken. Und gleichzeitig auch an ein Wort aus der Bibel, das zufällig heute auch Teil der Lesung aus dem Alten Testament ist.
„Wie bei einer Terebinthe oder Eiche, von denen beim Fällen noch ein Stumpf bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein.“ (Jes 6,13b)
Man kann das ganz oft in der Natur beobachten. Aus einem abgebrochenen Baumstumpf wachsen neue Triebe hervor. Etwas ist zu Ende gegangen und man sieht noch die Überreste. Doch aus dem Alten heraus entwickelt sich neues Leben.
Für den Propheten Jesaja ist das ein Bild der Hoffnung. Sein Volk musste schmerzhafte Veränderungen erleben, die fast das Ende des Volkes bedeutet hätten. Jesaja musste dieses Ende sogar ankündigen und beschleunigen. Und doch sieht auch er schon neues Leben aufkeimen.
b) Das Motiv der Tanne im Karwendelgebirge und dieses Bild des Propheten Jesaja helfen mir, unsere Gegenwart und unsere Situation als Kirche besser zu verstehen.
Wir erleben einerseits große Veränderungen und Abbrüche in der Kirche. Und doch habe ich Hoffnung und bin davon überzeugt, dass das kirchliche Leben in Deutschland und auch in unserer Region weitergeht.
Doch zuerst müssen wir wahrnehmen, welche schmerzhaften Veränderungen gerade geschehen.
In der Kirchenzeitung vom 12. Mai 2024 fanden sich gleich zwei Berichte über die neueste Statistik der Evangelischen Kirche in Deutschland zu den Mitgliedszahlen. Jedes Jahr im Februar muss ich dazu die entsprechenden Tabellen ausfüllen und weiterleiten. Jetzt wurden die gesammelten Daten veröffentlicht. Die Evangelische Kirche hat im vergangenen Jahr 593.000 Mitglieder verloren. Erstmals davon über die Hälfte durch Austritte, das heißt, 380.000 Menschen haben die Kirche verlassen. Taufen und Wiedereintritte können den Verlust nicht aufwiegen. So ähnlich geht es schon seit Jahren.
Manche der Gründe, die zum Austritt führen, sind hausgemacht, so wie die Missbrauchsfälle. Andere Gründe liegen in allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen, die wir als Kirche kaum beeinflussen können. Aber die Frage nach den Ursachen will ich jetzt gar nicht weiter bedenken.
In jedem Fall ist es nicht mehr zu übersehen: Unsere Kirche, so wie sie die meisten von uns als Kinder noch kennengelernt haben und wie sie über Jahrhunderte bestand hatte, stirbt. Sie stirbt wie die alte Tanne im Karwendelgebirge.
Wir erleben das auch hier vor Ort. Unsere Region „Evangelisch im Tollensewinkel“ war früher einmal eine Superintendentur. Auf den Dörfern gab es viele einzelne Pfarrstellen. Und in den Dörfern waren noch viel mehr Menschen als heute Mitglieder unserer Kirche. Wie ein Baum seine Blätter verliert, so haben wir Mitglieder verloren. In Folge davon wurde auch die Zahl der Pfarrstellen angepasst und zusammengestrichen.
(Nur nebenbei: Im Vergleich mit anderen Kirchenregionen sind wir mit Pfarrstellen im Tollensewinkel noch sehr gut gestellt.)
Geblieben sind unsere schönen Kirchen. Allerdings sind sie fast wie Äste mit nur noch wenigen oder gar keinen Blättern mehr.
Es ist nicht mehr zu übersehen. Die Volkskirche, wie wir sie kannten, stirbt. Diese Diagnose ist nicht neu. Sie wird aber selten offen ausgesprochen. Die Leiterin des Predigerseminars der Nordkirche, Emilia Handke, hatte dazu auf einer Mitarbeitertagung Anfang des Jahres den Mut. Sie brachte es auf den Punkt: „Wir stehen vor dem Ende der Kirche in der vorliegenden Form, und es ist höchste Zeit, unsere Allmachtsphantasien aufzugeben.“
Mit Allmachtsphantasien meinte sie die Versuche der letzten Jahrzehnte, eine Trendwende herbeizuführen. Also die Vorstellung, dass es an uns und unserem Handeln liege, dass die Kirche so weiterbesteht, wie wir sie kennen.
Was ich gerade sage, das tut weh. Abschiede von jemanden oder etwas, das man liebt, tun immer weh. Und so ist es auch mit der Kirche. Doch ich kann und will Ihnen diese bittere Erkenntnis nicht vorenthalten. Das ist mein erster wichtiger Punkt für heute. Wir werden bestimmte Formen und Strukturen von Kirche nicht aufrechterhalten können. Sie werden noch eine Zeitlang weiter bestehen, so wie der tote Baumstumpf im Karwendelgebirge. Und wie sich die Natur aus einem verrottenden Baumstumpf Nährstoffe holt, so werden wir auch noch einige Zeit aus dem Restbestand der sterbenden Volkskirche zehren.
c) Aber das neue Leben wächst woanders. Und das ist mein nächster Punkt. Glaube und Kirche gehen weiter. Die Volkskirche stirbt, aber der Leib Christi nicht, schrieb mein Doktorvater Michael Herbst.
Es wird nicht mehr in jeder Dorfkirche Gottesdienste geben. Wir werden nicht jede Gemeinde halten können. Vieles wird sich verändern. Und wir werden noch harte Entscheidungen treffen müssen. Als Kirche in Deutschland insgesamt. Aber auch als Gemeinde vor Ort.
Wir werden lernen, anders Kirche und Gemeinde Jesu Christi zu sein als bisher.
Der Leib Christi hängt nicht an bestimmten Strukturen. Er lebt davon, dass Menschen sich in Jesu Namen versammeln, gemeinsam glauben, gemeinsam lieben und gemeinsam hoffen. Und daraus wächst neues Leben für unsere Kirche.
Wenn ich auf die Tanne im Karwendelgebirge schaue und mir das Bibelwort von Jesaja in Erinnerung rufe, dann will ich schon auf das Neue schauen. Wir können die alte Kirche nicht mehr retten.
Aber wir können etwas dazu beitragen, dass es weitergeht. Wir können den Boden für neues bereiten und selbst schon teil des Neuen sein. Darüber möchte ich mit Ihnen in dieser Predigtreihe weiter nachdenken.
Jetzt sage ich Amen.
Es ist zwar noch nicht alles gesagt. Bei so einem großen Thema kann man auch nicht alles auf einmal sagen. Aber einen Auftakt habe ich gemacht. „Die Zukunft der Kirche“ habe ich diese Predigtreihe genannt. Vielleicht ist der Titel etwas zu groß gewählt. Doch ich möchte mit Ihnen weiter über unsere Situation und die Zukunft unserer Gemeinden nachdenken. Die nächste Predigt dazu kommt am kommenden Sonntag. Und ich hoffe, dass Sie dann wieder mit dabei sind.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen
Bild 1: der tote BaumstumpfBild 2: die neue Tanne vor dem toten Stumpf