Die Predigt von Vikar Nicolas Winkler zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres (10.11.2024).
Predigttext ist Mi 4,1-7b.
Sie zogen durch die Straßen. Bejubelt und angefeuert. Es war noch früher Morgen.
Fensterscheiben splitterten. Auslagen wurden auf die Straße geworfen. Häuserwände beschmiert. Hier zerrte man eine Frau aus dem Haus, dort einen Veteranen aus dem Laden, beschmierte ihn und stieß ihn johlend umher. Während er vor Angst erstarrte.
Sicher war hier nur, wer nicht als Jude erkannt wurde. Aber für alle Juden begann ein neues Kapitel der Tortur.
Es war früher Morgen. Sie zogen durch die Straßen. Bejubelt und angefeuert. Mit Fackeln, mit Steinen, mit Hass. Marodierend. Angestachelt vom Führer und von Kirchenleuten. In ganz Deutschland. Es war noch dunkel aber schon zog eine neue Dunkelheit auf. Am 9. November 1938 zeigte Deutschland seine häßliche Fratze. Jüdische Mitbürger wurden erniedrigt, geschlagen, ihr Eigentum und ihre heiligen Stätten zerstört. Es war ein Vorgeschmack auf den Versuch, die Juden in Europa auszulöschen.
Kaum jemand traute sich, gegen die Unmenschlichkeit zu stellen. So konnten die deutschen Täter am 9. November ungehindert ihren Hass ausleben. Gestern vor 86 Jahren zogen unsere Vorfahren durch die Straßen Deutschlands. Vielleicht auch hier in Altentreptow, zur Unterbaustraße zur Filiale Meyer?
Die christlichen Kirchen bekleckerten sich nicht mit Ruhm. Längst schon war das Christentum ein nationales geworden und viele Bischöfe zu Claqueuren des wütenden Mobs. Wo sich ein Pfarrer traute, den Judenhass zu verurteilen, wie im Schwäbischen Oberlenningen, so wurde er daraufhin von Nationalsozialisten fast tot geschlagen und anschließend inhaftiert.
Gestern vor 86 Jahren zeigten unsere Vorfahren wie Angst und Hass Menschen entmenschlicht. Das bezieht sich nicht nur auf die Täter. Am Schlimmsten war, dass kaum einer Mut Anstand aufbrachte, sich für Menschlichkeit und Nächstenliebe einzusetzen.
Nicht erst mit dem 9. November 1938 begann die Bankrotterklärung der christlichen Mehrheit in Deutschland. Man hatte Gott durch die deutsche Nation ersetzt, nicht mehr der Heilige Geist, sondern der Nationalstolz wirkte in ihnen und an Jesu Stelle war Hitler getreten. Man verdrehte die Bibel, wo man nur konnte oder ignorierte sie gleich. Der Deutsche Christ war erfüllt von Nationalgeist und Überlegenheitsgefühl.
Dabei ist uns Christen ganz anderes aufgetragen. Wie es sein sollte, es steht doch in der Bibel. Zum Beispiel im Buch Micha, im 4. Kapitel. Unserem heutigen Predigttext.
Am Ende der Tage wird es geschehen:
Der Berg mit dem Haus des Herrn steht felsenfest.
Er ist der höchste Berg und überragt alle Hügel.
Dann werden die Völker zu ihm strömen.
Viele Völker machen sich auf den Weg und sagen:
»Auf, lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn,
zum Haus, in dem der Gott Jakobs wohnt!
Er soll uns seine Wege weisen.
Dann können wir seinen Pfaden folgen.«
Denn vom Berg Zion kommt Weisung.
Das Wort des Herrn geht von Jerusalem aus.
Er schlichtet Streit zwischen vielen Völkern.
Er sorgt für das Recht unter mächtigen Staaten,
bis hin in die fernsten Länder.
Dann werden sie Pflugscharen schmieden
aus den Klingen ihrer Schwerter.
Und sie werden Winzermesser herstellen
aus den Eisenspitzen ihrer Lanzen.
Dann wird es kein einziges Volk mehr geben,
das sein Schwert gegen ein anderes richtet.
Niemand wird mehr für den Krieg ausgebildet.
Jeder wird unter seinem Weinstock sitzen
und unter seinem Feigenbaum.
Niemand wird ihren Frieden stören.
Denn der Herr Zebaot hat es so bestimmt.
Noch rufen viele Völker, jedes zu seinem eigenen Gott.
Wir aber leben schon heute im Namen des Herrn,
unseres Gottes, für immer und alle Zeit.
Der Prophet Micha zeichnet ein Bild des verheißenen Reich Gottes. Des Ideals, auf das hin wir Christen arbeiten sollten. Die Vorstellung dieses Reichs steht absoluten im Gegensatz zum 9. November 1938.
Das Reich Gottes, wie der Prophet Micha es beschreibt, ist ein Friedensreich. Das Reich Gottes ist anziehend. Die ganze Welt kann es sehen und möchte daran teil haben. Sie möchten dabei sein und lernen, wie man Gott nahe ist, wie man Gottesnähe leben kann.
Das Reich Gottes ist da, wo Frieden zwischen den Völkern hergestellt wird. Nicht nur hier in Europa, sondern auf allen Teilen der Erde. Das Reich Gottes ist da, wo Waffen lebensdienlich genutzt werden. Nicht mehr um Menschen zu töten, sondern anderen zu helfen. Wie es zum Beispiel der Heilige St. Martin vorgemacht hat. Im Reich Gottes werden die Menschen friedlich miteinander leben. Es wird keine Soldaten mehr geben, weil man Konflikte friedlich zu lösen vermag. Im Reich Gottes werden wir nicht mehr beherrscht von Eifersucht. Wir werden den Nachbarn nicht mehr beneiden, sondern uns mit ihm freuen. Im Reich Gottes werden wir friedlich miteinander umgehen. Nicht nur die Waffen werden schweigen, wir werden auch unsere Worte abrüsten. Dies ist das Ideal, das der Prophet Micha zeichnete. Es ist noch nicht da. Aber wir vertrauen auf die Verheißung, dass das Reich Gottes allgegenwärtig sein wird. Wenn die Zeit reif ist.
Das Reich Gottes, so hörten wir im heutigen Evangelium ist bislang nur im Keim gegenwärtig. Es ist unter uns, hier und da dürfen wir es erspüren. Wo die helfende Hand ausgestreckt wird. Wo Tränen getrocknet werden. Wo Ausgeschlossene eingebunden und Einsame nicht allein gelassen werden. Gott will uns Frieden schenken. Aber um Frieden zu haben, müssen wir mitwirken. Wir müssen unsere Schwerter zu Pflugscharen umschmieden:
Unsere Wutrede zu einer Liebeserklärung
Unseren Schlag zu einem Streicheln
Unseren Hass zu Liebe
Unseren Neid zu Freigiebigkeit
Unsere Angst zu Vertrauen.
Wo Gott uns die Kraft gibt, abzurüsten, erscheint das Reich Gottes unter uns sein. Die Verheißung ist nicht neu. Und die Idee des friedlichen Reich Gottes ist mächtig und anziehend. Wie mächtig und anziehend, das konnten wir schon einmal erleben. Damals, als durch das Land die harmlose und doch gefährliche Einladung ging: „Ich gehe jetzt spazieren. Wer mag, darf mich gerne begleiten.“
Man wollte nicht mehr marschieren, nicht mehr marodieren, sondern nur noch einträchtig spazieren.
In den Kirchen der DDR endeten die Gottesdienste mit der Einladung zum friedlichen Eintreten für Freiheit, Gerechtigkeit und Friede. Inspiriert waren sie vom heutigen Predigttext: „Schwerter zu Pflugscharen“.
200.000 Aufnäher hatte der Dresdner Pfarrer Brettschneider von der Herrnhuter Brüdergemeine anfertigen lassen. „Schwerter zu Pflugscharen.“ Schnell waren sie, die Zeichnung darauf und auch der Spruch verboten. Aber die Aufnäher und die Verheißung des Friedensreichs verbreiteten sich dennoch rasend. Die Hoffnung hatte ihren Ausgang in den Kirchen und sie erfasste ein ganzes Land. – Nur wenig später brachte die Verheißung Michas eine Diktatur zu Fall.
Und das Wunder des 9. November 1989 war nicht bloß die Öffnung der Mauer. Das Wunder war, dass dies geschah, ohne dass ein Schuss fiel. Hier konnte man einen Blick auf das Friedenreich werfen. Gottes Verheißung des Friedens brachte neuen Frieden in die Welt.
Die Hoffnung war so groß gewesen, dass nun Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Eintracht Einzug erhalten würde.
Gestern vor 35 Jahren, am 9. November 1989 kamen wir der Verheißung Gottes hier in Deutschland näher. Ihr Zeichen war das friedvolle Lächeln der Christen. Die mit Mut, Charme und Chuzpe eine gewalttätige Diktatur zu überwinden vermocht hatten. Weil die Sehnsucht nach Freiheit, nach Frieden, aber auch nach Demokratie und Wohlstand die Oberhand gewann.
Es war eine Zeit, von der man sich wünschte, sie möchte nie vergehen. Wir fühlten uns dem Ende der Geschichte so nah.
Aber die Geschichte ging weiter. Und heute, 35 Jahre später? Wo stehen wir heute? Der Geist der Verheißung ist nur noch als Bittruf zu hören. Stattdessen leben wir in einer beängstigenden Zeit:
Unsere Sprache hat sich enthemmt. Ganz offen darf man wieder darüber sinnieren, andere zu schänden, zu verletzen, zu erschießen. Angst, die in Hass umschlägt ist leider viel zu gegenwärtig. Sie drängt in immer neue Teile der Gesellschaft ein. Sie ist ein neues Normal, das Wahlen gewinnt. Auf der ganzen Welt.
Aber Sprache schafft Realität. Die Gewalt bleibt nicht Wort, sondern die Sprache wird zur Tat. Beständig hört man von Gewalt. Gewalt gegen Symbole, Gegenstände und Räumlichkeiten: Angriffe auf Regenbogenflaggen in Neubrandenburg, ein Café der queeren-Szene wird in Rostock angegriffen, Räume der AfD in Schleswig-Holstein mit Säure besprüht.
Hass und Gewalt erscheinen immer enthemmter. Auch gegen Menschen: Angriffe auf Schwule, Lesben, Linke, Rechte, Politiker und Ehrenamtliche, Deutsche und Zugezogene sind leider ein neues Normal. Ein Normal, das uns hoffentlich weiter schockiert. Es ist ein Normal, das Angst macht, weil ihn ihm der Geist von 1938 weiter lebt.
Und was ist mit dem Geist von 1989?
Die Hoffnung ist vielerorts in Enttäuschung umgeschlagen. Die Erwartung in Verlusterfahrungen.
Und, wir leben heute in einer verwirrenden Freiheit. Es geht heute also nicht mehr darum Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit bei uns zu erkämpfen. Die Aufgabe ist es, sie zu verteidigen. Gegen Hass, gegen Wut, gegen Enttäuschung und Verbitterung. Es fühlt sich so schwer an. Aber mit Gottes Hilfe, können wir bestehen.
Der Geist von 1989 ist noch da. Dort, wo wir zu Boten des Reichs Gottes werden. So wir es im Friedenspsalm am Anfang des Gottesdienstes gebetet haben:
Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
dass ich Liebe übe, wo man sich hasst,
dass ich verzeihe, wo man sich beleidigt,
dass ich verbinde, wo Streit ist,
dass ich die Wahrheit sage, wo der Irrtum herrscht,
dass ich den Glauben bringe, wo der Zweifel drückt,
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält,
dass ich ein Licht anzünde, wo die Finsternis regiert,
dass ich Freude mache, wo der Kummer wohnt.
Amen.
Halten wir einen Moment still inne, um das Gesagte nachklingen zu lassen.