Andacht 24.11.2024

24. November 2024 | Andachten

 

Predigt vom 24.11.024


Und plötzlich steht der Himmel offen

Ewigkeitssonntag 24.11.2024 – Ps 126 – P. Dr. Michael Giebel

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Amen

Liebe Gemeinde,

a) „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.“ (V.1)

Ich lese diese Worte und ich denke an die Menschen, die seit über einem Jahr in den Tunneln der Hamas gefangen sind. Manche werden bestimmt nicht mehr am Leben sein. Wie es den übrigen geht, mag man sich gar nicht vorstellen. Eine Befreiung wäre ein Traum. Doch mehr als ein Traum scheint eine Befreiungmomentan auch nicht zu sein. Ich bleibe hilflos zurück mit meinen Gedanken. 

„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.“

Diese Worte erinnern nicht nur an eine traumatische Situation unserer Gegenwart. Sie führen uns auch weit in die Geschichte des Volkes Israel zurück. Immer wieder hat es erlebt, dass das ganze Volk in Gefangenschaft geraten war. Zuerst war es in Ägypten in Sklaverei gefangen. Später wurden große Teile des Volkes nach Babylon verschleppt. Und noch einmal später wurden sie in alle Welt zerstreut. Zeiten voller Trauer, Verlust und Schmerzen. Eine Rückkehr in die Heimat wäre ein Traum gewesen. 

„Wenn der Herr, die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.“

Der Psalm nennt keine Jahreszahlen. Er spricht von einer Erfahrung, die Menschen (nicht nur) aus dem Volk Israel immer wieder gemacht haben. 
Es gibt Kräfte in dieser Welt, die Menschen gefangen nehmen. Manchmal ganz real, so wie jetzt die Hamas. Oft aber auch in einem übertragenen Sinn. Süchte, Ängste, Krankheiten und vieles mehr. Seitdem es dieses alte Lied gibt, singen und beten es Menschen, die diese Erfahrungen teilen. 

b) Aber dieses Lied ist kein Klagelied. Es ist ein Segenslied, ein Lied der Freude und des Lachens. 

„Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich.“ (V. 3)

Dahinter steht eine weitere Erfahrung, die das Volk Israel geprägt hat. Gott hält seinem Volk die Treue. Gott greift ein. Er hilft. Die Gefangenschaft ist nicht das Ende. 

Er hat sein Volk aus Ägypten befreit. Er hat sein Volk aus der Gefangenschaft in Babylon befreit. Er hat eine Rückkehr nach Israel nach über 1800 Jahren möglich gemacht. Und viele weitere Stationen könnte man nennen. Und so haben es unzählige Beter in ihrem persönlichen Leben erlebt. 

„Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich.“ (V. 3)

Wer diesen Psalm betet, der trägt eine Hoffnung in sich. Und zwar eine Hoffnung, die sich auf diese Erfahrung gründet. Weil Gott schon geholfen hat, wird er auch wieder helfen. Immer wieder haben Menschen das erlebt. Plötzlich steht der Himmel offen. Das Blatt hat sich zum Guten gewendet. Sie können noch gar nicht begreifen, was gerade geschehen ist. Wie in einem Traum kommt es ihnen vor. Doch es ist wahr.

„Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich.“ (V. 3)

c) Wir feiern heute Totensonntag. Wir haben an die Menschen aus unserer Gemeinde gedacht, die im vergangenen Jahr gestorben sind. Der Tod ist die stärkste Macht, die wir kennen. Wen er in seinen Klauen hat, den gibt er nicht mehr her. Und wir wissen, dass jeder von uns auf den Tod zu lebt. Die Macht des Todes macht vor keinem halt. Wenn ein Mensch stirbt, dann ist das für uns endgültig. Es gibt kein Zurück mehr.

Die Macht des Todes streckt ihre Finger jedoch weit in unser Leben hinein. Wir erleben den Tod um uns herum und in unserem eigenen Leben. 

Der Tod herrscht da, wo etwas kaputt geht. Schwere Krankheiten sind wie Finger des Todes, die uns mitten im Leben schon umklammern können. Vielleicht denken Sie nun zurück an ihren geliebten Menschen, den sie verloren haben. An die Zeit vor dem Tod, die manchmal schon durch das nahe Endegeprägt war. Ich erinnere mich an meinen Onkel, der durch eine besondere Form von Parkinson sich immer weniger bewegen konnte und immer mehr in Demenz abglitt. Das ging ungefähr vier-fünf Jahre so. 

Die Finger des Todes greifen aber auch an anderen Orten um sich. Wie viele Tränen werden geweint, weil Menschen einander Böses antun? Wie viele Herzen vertrocknen, weil die Liebe um sie herum erkaltet? Trauer, die verzweifeln lässt, statt zurück ins Leben zu führen. Angst, die der Seele den Atem nimmt. Sucht, mit der die ungestillte Sehnsucht nach gelingendem Leben gestillt werden soll, aber doch nur den Tod bringt. 

Sie und ich, wir kennen die Macht des Todes. Mitten im Leben greift sie nach uns. Für all das steht der Totensonntag. Und dementsprechend heißt der Wochenspruch: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden.“ (Ps 90,12)

Man könnte sagen, der Tod führt uns alle in seine Gefangenschaft. Keiner ist davon ausgenommen. So ist unsere Erfahrung, seit Menschengedenken. In manchen alten Kirchen kann man das auf Deckenmalereien sehen. Mit einem Seil hat der Tod eine Gruppe von Menschen gefesselt und führt sie in einen dunklen Schlund hinein. 

d) Wir haben heute Psalm 126 gebetet. Denn wir Christen glauben, dass auch diese letzte Gefangenschaft des Todes nicht das Ende ist. Es ist unsere Hoffnung, dass Gott auch aus dieser letzten Gefangenschaft befreit. Eine gute Hoffnung, die sich auch auf eine Erfahrung stützt. Psalm 126 erzählt von dieser Hoffnung noch einmal auf eine zweite, verborgen Weise. 

Vielleicht erinnern Sie sich: Zu Ostern haben wir Ihnen eine kleine Visitenkarte gegeben. Das war eine Bildkarte, die jeweils ein leicht verändertes Bild zeigt, je nachdem, in welchem Winkel man die Karte hält. In einem gewissen Sinn ist Ps 126 selbst solch ein Wackelbild. 

Man kann den ersten Vers auch so übersetzen: „Als der HERR zurückkehrte nach Zion, da waren wir wie Träumende.“ Das klingt erstmal ganz anders als: „Wenn der Herr, die Gefangenen Zions erlösen wird“. Im Hebräischen ähneln sich die Worte „Gefangenschaft“ und „Rückkehr“ sehr. Sie haben viele gleiche Buchstaben. Fast so ähnlich wie bei uns ein Teekesselchen, also ein Wort mit mehreren Bedeutungen. Und dadurch kommt eine zweite Pointe hinzu, so wie bei einem Wackelbild. Wenn Gott kommt, dann ist plötzlich alles anders. Die erste Begegnung wird wie im Traum sein. So wie wenn man einen Menschen nach einer langen Reise das erste Mal wieder in den Arm nehmen kann. Wenn Gott kommt, dann ist die Gefangenschaft zu Ende. Dann ist Lachen und Freude angesagt. 

e) Für uns Christen passt dieser Psalm darum besonders gut. Denn in Jesus Christus ist Gott schon zu uns gekommen. Er ist Mensch geworden. Wir werden das an Weihnachten wieder feiern. Mit Lachen und Jubel und großer Freude. Und Jesus hat Segen mitgebracht. In seiner Nähe sind Menschen befreit worden, geheilt und getröstet worden. Sie haben neue Hoffnung bekommen. Und an Ostern hat Jesus Christus den Tod überwunden. Er ist auferstanden. Da war der Himmel plötzlich offen. Gottes unerwartetes Kommen bringt Glück und Segen. 

Ganz zu Recht heißt es darum im Psalm: „Da wird man sagen unter den Völkern: Der Herr hat Großes an ihnen getan! Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich.“ (V.2-3)

Jesus befreit uns aus der Gefangenschaft des Todes. Sie ist nicht endgültig. Sie wird nicht das Letzte sein. Weil Gott schon einmal geholfen hat, wird er auch wieder helfen. Weil Jesus auferstanden ist, werden auch wir auferstehen. 

f) „Als der HERR zurückkehrte nach Zion, da waren wir wie Träumende.“ 

Oder: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.“ (V.1)

Man könnte sich lange streiten, was die richtige Übersetzung ist. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die biblischen Autoren bewusst solche Doppeldeutigkeiten eingebaut haben. Das ist doch wie ein Augenzwinkern. Beides ist wichtig und soll gesagt werden. Wie ein Wackelbild zwei Bilder ineinander zeigt. 

Und so ist ja auch unsere Situation. Wir leben unter der Gefangenschaft der Macht des Todes. Und wir spüren wie weit er seine Finger in unser Leben hinein ausstreckt, manchmal in unser kleines persönliches Leben, und zur Zeit ganz offen in den Ereignissen der Weltgeschichte um uns herum. 

Doch wir blicken auch zurück auf Gottes wunderbares Eingreifen. Wir erinnern uns an sein Kommen in Jesus Christus, als er den Tod überwunden hat. Und oft haben wir es selbst erlebt, wie Gott hilft. Plötzlich war der Himmel offen und unser Dank flog Gott entgegen.

Beide Erfahrungen prägen unser Leben. Und darum dürfen wir getrost sein. Unsere Hoffnung gründet auf Erfahrung. Gott wird wieder kommen. Ganz unverhofft, überraschend ist er plötzlich da. Jetzt schon immer wieder. Und eines Tages für immer, ein für alle mal. Amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Amen

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